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Archiv der Impulse des Monats

Juni/Juli

Frieden

„Sag mir, was wiegt eine Schneeflocke?“, fragte die Tannenmeise die Wildtaube.
„Nicht mehr als Nichts“, gab sie zur Antwort.
„Dann muss ich dir eine wunderbare Geschichte erzählen“, sagte die Meise.

„Ich saß auf dem Ast einer Fichte, dicht am Stamm, als es zu schneien anfing; nicht etwa heftig mit Sturmgebraus, nein, wie im Traum, lautlos und ohne Schwere. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, zählte ich die Schneeflocken, die auf die Zweige und Nadeln meines Astes fielen und darauf hängenblieben. Genau dreimillionensieben-hunderteinundvierzigtausendneunhundertzweiundfünfzig waren es. Als die drei-millionensiebenhunderteinundvierzigtausendneunhundertdreiundfünfzigste Flocke niederfiel – nicht mehr als Nicht, wie du sagst -, brach der Ast ab.“ Damit flog sie davon.

Die Taube, seit Noahs Zeiten eine Spezialistin in dieser Frage, sagte zu sich nach kurzem Nachdenken: „Vielleicht fehlt nur eines einzigen Menschen Stimme zum Frieden der Welt.“

Kurt Kauter

Aus: Oh! – Noch mehr Geschichten für andere Zeiten; Andere Zeiten e.V., Hamburg 2010

April/Mai

Die Steppe wird blühen

Die Steppe wird blühen,
die Steppe wird lachen und jauchzen.
Die Felsen, die stehen seit den Tagen der Schöpfung,
stehn voll Wasser, doch dicht,
sie werden sich öffnen.
Das Wasser wird strömen,
das Wasser wird glitzern und strahlen,
Durstige kommen und trinken.
Die Steppe wird trinken,
die Steppe wird blühen,
die Steppe wird lachen und jauchzen.

Verbannte, sie kommen
mit leuchtenden Garben nach Hause.
Die gingen in Trauer
bis zum Ende der Erde,
hin auf immer, allein –
vereint kehrn sie wieder.
Wie Bäche voll sprudelndem Wasser,
brausend herab von den Bergen.
Mit Lachen und Jauchzen –
die säten in Tränen,
kehrn wieder mit Lachen und Jauchzen.

Der Tote wird leben.
Der Tote wird hören: Nun lebe.
Zu Ende gegangen,
unter Steinen begraben:
Toter, Tote, steht auf,
es leuchtet der Morgen.
Da winkt eine Hand uns,
uns ruft eine Stimme: ich öffne
Himmel und Erde und Abgrund.
Und wir werden hören,
und wir werden aufstehn
und lachen und jauchzen und leben.

aus: Das Huub Oosterhuis Gottesdienstbuch; Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013
Übersetzung Annette Rothenberg-Joerges

März 2023

Die Lücke

Es war einmal eine Lücke. Du musst gefüllt werden,rief man ihr zu, aber die Lücke schüttelte den Kopf.

Zuerst kam die Angst. Sie mahnte, dass man hindurchfallen und sich für immer verlieren könne. Diese Lücke, sagte sie, müssen wir schnellstens schließen, und schlug Ersatz vor. Aber die Lücke schüttelte den Kopf.

Als nächstes kam der Pragmatismus. Er fand, dass man jede freie Stelle nutzen solle. Zum Beispiel, um ein Hobby zu beginnen. Bienen züchten läge gerade im Trend. Aber die Lücke schüttelte den Kopf.

Zuletzt kam die Vollkommenheit. Ihr Antlitz war einschüchternd schön. Sie mochte es gar nicht, wenn irgendwo etwas fehlte. Aber die Lücke stellte sich ihr in den Weg und sagte: Ich bleibe. Ich bin da, damit das Glück hindurchschlüpfen kann. Und so hielt die Lücke allen Versuchungen tapfer stand, und das Glück fand seinen Weg.

Susanne Niemeyer
(aus: Hoppla! Neue Geschichten für andereZeiten; Andere Zeiten e.V., Hamburg 2021)

Januar/Februar 2023

Auf der Bank

Zwei Männer sitzen auf einer Bank
im Park. Fragt der eine: „Wenn du
Gott eine Frage stellen könntest,
was würdest du ihn fragen?“ Sagt
der andere: Warum Gott all das
Leid auf der Welt zulässt!“ Darauf
der erste: „Und warum machst du
es nicht?“ – „Weil ich Angst habe,
dass er mich das Gleiche fragt!“

Aus: „Hoppla! Neue Geschichten für andere Zeiten

Dezember

Schon wieder Advent!

Wie die Zeit vergeht!

Und schon beginnt ein neues Jahr, also Kirchenjahr!

„Chronos“ (griechisch für Zeit) war jener Göttervater, der seine eigenen Kinder aus lauter Angst, sie könnten ihm die Zeit stehlen und ihn vom Thron stürzen, auffraß. Viele empfinden sich gerade in den Tagen vor Weihnachten von der Zeit gejagt, gehetzt, buchstäblich in Gefahr, aufgefressen zu werden.

Dagegen steht der „Kairos“, das andere griechische Wort für Zeit. Er beschreibt die Stunden und unsere Tage als gut und wohltuend: Man lässt sich nicht total von der Zeit bestimmen, man nimmt sich die Zeit, kommt zusammen, feiert vielleicht Gottesdienst, kommt ins Gespräch miteinander.

Wir kennen den Unterschied ganz genau: In Angst und Gefahr hängt uns die Zeit wie Blei an den Füßen. In freundschaftlicher Atmosphäre aber nehmen wir sie wie ein schönes Geschenk an. Wo „Chronos“ herrscht, da sind Mangel, Gewalt, Hetze und Angst. Wenn wir dagegen unsere Zeit aus den Händen Gottes empfangen, entstehen heilige Zeiten wie der Advent.

Es macht überhaupt keinen Sinn, über die Hektik der vorweihnachtlichen Zeit zu jammern. Es macht auch keinen Sinn, dagegen Aktionen in Gang zu setzen, die wiederum neue Hektik erzeugen. Es genügt, für sich selbst einen Schritt aus dem Chronometer der Gesellschaft heraus zu tun. Schon fließt der hektische Strom an uns vorbei, und Gelassenheit breitet sich aus. Und vielleicht lässt sich die eine oder der andere davon anstecken.

Rainer M. Schießler

November

Nur mit der Zeit

Mit der Zeit merkst du, dass die Gesellschaft,
die du nur wählst, um nicht einsam zu sein,
dich nur dazu bringt, dass du lieber allein wärst.

Mit der Zeit merkst du, dass echte Freunde
viel wichtiger sind als viel Geld.

Mit der Zeit verstehst du, dass du
nur wenige echte Freunde hast
und wenn du nicht für die Freundschaft kämpfst,
wirst du früher oder später
nur noch von falschen Freunden umgeben sein.

Mit der Zeit lernst du, dass alle verzeihen können,
aber nur starke Persönlichkeiten vergeben können.
Mit der Zeit lernst du, alle deine Wege
nur noch für heute zu planen,
weil der Boden von morgen zu ungewiss ist,
um Pläne zu machen.

Mit der Zeit bist du glücklich mit allen Freunden
um dich herum und fängst an,
dich nach denen zu sehen, die gegangen sind.

Mit der Zeit lernst du, dass es keinen Sinn hat,
erst dann zu verzeihen, um Verzeihung zu bitten,
zu sagen, dass du liebst,
dass du vermisst, dass du brauchst,
wenn du vor einem Grab stehst.

aus: „Hab ich mir´s doch gedacht“; Mirjam Miethe, Daylin Santos Diaz (Hrsg.); Neues Buch, Nidderau 2017

September - Oktober

Gib mir Selbstbewusstsein

Herr, führe meine Sache  (nach Psalm 35)

Gott, mein Problem sind die Leute die mich nicht mögen
und die mir das Leben schwer machen.
Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.
Nimm du doch alles in deine Hand und sag mir, dass du auf meiner Seite stehst.
Du hast Waffen, die kein Mensch hat; denn dein Wort ist scharf wie ein Speer
und deine Wahrheit ist einschneidend wie ein Messer.
Dann ziehen sich die, die mir Angst machen, von ganz allein zurück.
Sie können mir dann kein Bein mehr stellen.
Wenn du auftrittst sind sie wie weggepustet.
Solche Leute richten viel Unheil an und stellen einem regelrecht Fallen.
Dabei habe ich immer wieder den Anfang gemacht,
bin zu ihnen gegangen, habe die Hand hingehalten,
oder wenn jemand mich brauchte, war ich für ihn da.
Ich habe sogar für sie gebetet.
Ich habe geschwisterlich für sie gesorgt
und habe für sie Partei genommen, wenn es darauf ankam.
Was habe ich geerntet? Gelächter und Druck.
Das hat mich traurig gemacht.
Du siehst das doch auch. Hilf mir durch.
Ich habe immer Angst vor Menschen, die sich wie wilde Tiere benehmen.
Sie wollen überhaupt keinen Frieden,
und immer richten sie sich gegen die Kleinen und Leisen.
Bitte, gib mir Selbstbewusstsein und guten Stolz,
dass sich meine wirklichen Freunde mit mir freuen können,
wenn ich ihnen sage, dass du auf meiner Seite stehst.
Sie sollen wissen, dass meine Kraft von dir kommt,
und jeden Tag will ich dafür danken.

aus: „Höre meine Stimme – Die Psalmen“ von Peter Spangenberg

Juni - August

Hoffnung – Zuwendung – Licht

Als eine Grippe-Epidemie den Süden Englands heimsucht, kümmert sich Florence Nightingale (1820 – 1910) vier Wochen lang um die Versorgung Erkrankter. Am 7. Februar 1837 schreibt sie in ihr Tagebuch, dass sie sich aufgrund einer spirituellen Erfahrung in den Dienst der Pflege gerufen sieht. „Sie hat nie erzählt oder aufgeschrieben, wie dieses spirituelle Erlebnis konkret abgelaufen ist. Aber das Resultat ihrer geistlichen Erfahrung war: viel Hoffnung. Viel Zuwendung. Und – im wahrsten Sinne des Wortes: viel Licht (Uwe Cassens). Von den Soldaten des Krimkrieges (1853 – 1856) hat sie damals den schönen Titel bekommen: „Die Lady mit der Lampe“! Diese Hoffnung, die sie erfüllt hat und mit der sie die Hoffnung vieler Menschen gestärkt hat, kommt sehr schön in ihrem Ausspruch zum Tragen:

„Gäbe es niemanden, der unzufrieden wäre mit dem, was er hat, würde die Welt niemals besser werden.“

(Florence Nightingale)

aus: Pflegedankkarte 2022 – Ökumenische Krankenseelsorge in Bayern
         in Zusammenarbeit mit der Seelsorge für Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen

Mai 2022

Von unten nach oben

Bei Wind und Wetter ist Heinz-Jürgen durch die Welt gestreift. Immer weiter. So weit die Füße tragen. Der Landstreicher hatte große Angst, irgendwo am Straßenrand zu krepieren, wie so mancher seiner Kumpel. Doch Heinz-Jürgen hatte einen Engel namens Ute. Sie stand ihm auch am Ende seines Weges bei und brachte ihren Schützling ins Hospiz.

Dort fragten sie ihn, ob er einen Wunsch hätte. „Wie bitte? Ob ich einen Wunsch habe? Das hat man mich noch nirgends gefragt. Ja, eine Zigarette rauchen dürfen, das wäre schön!“ Die Schwester hat ihn selbst gefragt, ob er ein Glas Rotwein wolle. Und dann noch der Fernseher in seinem Zimmer: „Ist der echt? Kann man den einschalten?“

Echt wahr, Heinz-Jürgen hat die letzten Tage seines Lebens genossen, obwohl er sterbenskrank war. Als armer Schlucker wäre der 67-Jährige anonym unter den Rasen gekommen. Doch auch das wusste Ute zu verhindern. Sie sorgte dafür, dass seine Urne mit vollem Namen in das Kolumbarium kam. Dort ruht der rastlose Heinz-Jürgen Rust, der immer unten war, mitten in der obersten Reihe.

aus: „Halt die Ohren steif – 99 Friedhofsgeschichten“ von Petrus Ceelen

April 2022

Die Nachtwolken

Die Nachtwolken
an deinem Himmel
kann ich nicht vertreiben,
deinen Schmerz
kann ich nicht von dir nehmen,
das Verlorene
nicht wiederbringen.

Lass mich dennoch,
arm, wie ich bin;
an deiner Seite bleiben;
bis das Leben
die zarte Spur der Hoffnung
in dein Herz zeichnet.

Antje Sabine Naegeli

März 2022

Den Tag leg ich in Deine Hand

Den Tag leg ich in Deine Hand
und alles, was da war:
die Freude und die Fröhlichkeit,
die Hoffnung hell und klar.
Und auch die Fragen bring ich Dir,
die ohne Antwort stehn,
die Leere und die Einsamkeit,
das müde, harte Gehen.

Ich mach Dir meine Hände weit,
nur mein Vertraun darin.
Du führst ja alle meine Zeit
zu Deiner Fülle hin:
Und weiß ich nicht um Weg und Ziel,
so geh ich auf Dein Wort,
denn auch in Not und Dunkelheit
hältst Du mich immerfort.

Und immer wieder stellst Du mir
an meinen Weg ein Licht.
So geh ich mit Dir Schritt für Schritt
und fürcht das Morgen nicht.
Ich leg den Tag in Deine Hand
und alles, was da war,
denn Du machst, weil Du Liebe bist,
den Frieden in mir wahr.

Kathi Stimmer-Salzeder

Februar 2022

Fürchte dich nicht …

… sagt der, der mich erwählt hat,
der mich bei meinem Namen gerufen hat,
mich geholt hat von weit, weit her,
fürchte dich nicht!

Ich gehe hinaus in die Weite des Lebens,
gucke in die Luft und in den Himmel,
lache die Sonne an und freue mich
auf die Sterne der Nacht,
spüre im Winter den Schnee unter den Füßen
und im Sommer den heißen Asphalt,
höre im Herbst das Knistern der Blätter
unter meinen Schuhsohlen und freue mich,
wenn im Frühling das erste Grün mich berührt.

Kein Stein kann mich stürzen,
kein Regentropfen mich treffen,
wenn er, der mich erwählt hat, mich hält.
Seine Arme, sie halten mich,
seine Liebe macht mich stark.
er gibt mir die Kraft für all das,
was kommt, für all das, was ist.
Er hält mich auf all meinen Wegen
und ich lache meine Sorgen hinweg
in den Wind – zusammen mit dem,
der mich gerufen hat und mich hält.

Theresia Bongarth

Januar 2022

Hoffnung

Hoffnung
ist nicht die Überzeugung,
dass etwas gut ausgeht.

Hoffnung
ist die Gewissheit,
dass etwas Sinn hat,
egal wie es ausgeht.

Vaclav Havel

Dezember 2021

Es ist die Zeit

Es ist die Zeit,
wo die Nester bewohnt werden
von den Schneeflocken
und die goldenen Blätter
Abschied genommen haben
in leichtem Fall.

Es ist die Zeit,
wo die Gedanken sich wenden
und die Häupter sich heben
und das Herz sich erinnert,
dass Dunkelheit
nicht dunkel ist bei ihm
und Licht sein wird statt Nacht.

Es ist die Zeit,
wo die Rechtschaffenen
zu schweigen beginnen
und neue Worte gefunden werden
von denen, die gesucht haben,
während sie warteten.

Es ist die Zeit,
wo wir beginnen,
uns Gott ans Herz zu legen.
Mir geschehe, wie du gesagt hast!

Frank Howaldt

November 2021

Liebe

Eine alte Indianerin pflegte ihren spanischen Nachbarn stets ein paar Rebhuhneier oder eine Handvoll Waldbeeren zu bringen. Die Nachbarn sprachen kein Araukanisch mit Ausnahme des begrüßenden „Mai-mai“, und die alte Indianerin konnte kein Spanisch, doch sie genoss Tee und Kuchen mit anerkennendem Lächeln.

Die Nachbarskinder bestaunten ihre farbigen Umhänge, von denen sie mehrere übereinander trug, ihre kupfernen Armbänder und ihre Halsketten aus Silbermünzen. Sie wetteiferten darum, den melodischen Satz zu behalten, den die Frau jedes Mal zum Abschied sagte. Schließlich konnten sie ihn auswendig, und sie fragten einen anderen Indianer, der zugleich spanisch sprach, was er bedeute. „Er bedeutet“, antwortete dieser, „ich werde wiederkommen; denn ich liebe mich, wenn ich bei euch bin.“

aus: „Oh! – Noch mehr Geschichten für andere Zeiten“; Andere Zeiten e.V.

Oktober 2021

Das Geschenk

Auf einer der größeren Inseln vor der Küste lebte ein Schüler, der seiner Lehrerin eine ganz besonders geformte Muschel schenkte. Sie dankte ihm erfreut und bemerkte:
„Ich habe noch nie eine so wunderbare Muschel gesehen, sie ist ganz außergewöhnlich schön! Wo hast du sie denn gefunden?“ Der Schüler erzählte ihr von einer versteckten Stelle am anderen Ende der Insel und dass dort hin und wieder solch eine Muschel angeschwemmt werden würde. „Ich danke dir nochmals von Herzen. Aber du hättest doch keinen so weiten Weg machen sollen, nur um mir etwas zu schenken.“ Darauf der Schüler: „Aber der weite Weg ist doch ein Teil des Geschenks.“

aus: Hoppla! Neue Geschichten für andere Zeiten

September 2021

Apfelbaum und Olive

Ein Trost zu wissen
wo die Tassen stehen und die Teller
in dem Haus, in dem du zu Gast bist,
und einen Anteil zu haben
an der Zärtlichkeit von Katze und Hund
deines Freunds,
und die Tücke des Fahrrads zu kennen
als sei es dein eignes,
auf dem du mit der verblichenen Tasche
in das fremde Dorf fahren darfst,
und die Milch auf dem Weg zu verschütten
als habest du selbst
den Deckel der alten Kanne
vor Jahren
auf diesem Wege verloren.
Du gehst durch das Gartentor
und machst es hinter dir zu,
als stehe die Bank
für dich vor dem Haus,
und siehst die Anderen draußen vorbeigehen,
du,
der Wanderer
von Tag zu Tag
und von Land zu Land,
an dem das Wort
von der Flüchtigkeit
allen Hierseins
Fleisch ward.
Du, 
den jede Wand aufgibt,
und den es oft nach des Zirkuskinds
fahrbarer Höhle verlangt.

Zwar, der Apfelbaum und die Olive
sind überall dein,
und in den fernen Ländern
schiebt man dir einen Stuhl an den Tisch,
an der Seite der Hausfrau,
und jedes gibt dir von seinem Teller
wenn die Schüssel schon leer ist,
als habe ein Kind sich verspätet,
nicht als kämest du eben vom Flugplatz.
Und die dunklen Mangobäume
und die Kastanien
wachsen Seite bei Seite
in deinem Herzen.

Du weißt, wie die hohen Gräser
an den Rändern der Inseln rascheln
in allen südlichen Meeren,
wie staubig die Kaktuswege sind,
und du gehst durch die schaumigen Wiesen 
und kennst ihren bunten Kalender.
Du spielst mit dem Wind
und bläst die hellen Kugeln
des Löwenzahns in die Luft
und siehst dem Schweben
der kleinen weißen Schirme mit zu
- so leicht, so widerstandslos vor dem Wehen
wie du selbst.
Irgendwo
dürfen sie landen.

Dann fährst du die Straße hinab
als glittest du auf einem Schlitten
an den Pappeln vorbei
in die Abendsonne.
Ein Reh tritt aus dem Wald,
und eine kleine Kirche auf einem Hügel
mit einem einsamen Kirchhof
winkt dir zu.
Du wägst ihren Gruß
wie eine Einladung,
die man eines Tages
- noch ungewiss, wann - 
vielleicht gerne
annehmen möchte.

Und daran erkennst du,
dass du
hier ein wenig mehr
als an anderen Stätten
zuhause bist.
                                                     Hilde Domin

August 2021

Es war einmal eine Insel

Es war einmal eine Insel, wo alle verschiedenen Gefühle lebten. Das Glück, die Traurigkeit, das Wissen und all die anderen, die Liebe auch.

Eines Tages meldete man den Gefühlen, dass die Insel sinken wird. So bereiteten sie ihre Schiffe und verließen die Insel. Nur die Liebe wollte bis zum letzten Moment ausharren. Als die Insel unterging, rief sie um Hilfe.

Der Reichtum war in der Nähe mit einem Luxusschiff. Die Liebe fragte ihn: „Reichtum, kannst du mir helfen?“ „ Nein“ antwortete dieser,  „weil es zu viel Geld und Gold auf meinem Schiff hat, so habe ich keinen Platz für dich.“

Die Liebe fragte sodann den Hochmut um Hilfe, der auch in der Nähe mit seinem wunderschönen Boot vorbeifuhr. „Ich kann dir nicht helfen. Du bist ganz nass. Du könntest mein Schiff beschmutzen“, gab dieser zur Antwort.

Als die Traurigkeit vorbeisegelte, fragte die Liebe: „Traurigkeit, lass mich mit dir gehen!“ „Oh… Liebe, ich bin sooo traurig, ich möchte besser alleine bleiben.“

Das Glück ist auch weitergefahren. Es war sooo glücklich, dass es die Liebe nicht hörte.

Und plötzlich hörte die Liebe eine Stimme: „Komm, ich nehme dich mit!“ Das war ein alter Mann, der gesprochen hatte. Die Liebe war so froh und glücklich, dass sie ganz vergaß nach seinem Namen zu fragen. Als beide auf festem Boden ankamen, ging der Alte weg.

Die Liebe merkte, wieviel sie dem Alten schuldete und fragte das Wissen: „Wer hat mir geholfen?“ „Das war die Zeit“, antwortete das Wissen. „Die Zeit“ fragte die Liebe, „aber warum hat die Zeit mich gerettet?“ Das Wissen lächelte weise und antwortete ihr: „Weil nur die Zeit verstehen kann, wie wichtig Liebe im Leben ist.“

Mai 2021

Der Raum der alten Schlüssel

Meine Großmutter hat mir mal diesen Tipp gegeben:
Wenn die Zeiten schwierig sind, gehe in kleinen Schritten weiter.
Tu, was du tun musst, aber tu es langsam.
denk nicht an die Zukunft oder was morgen passieren kann.
Reinige das Geschirr. Wisch den Staub ab.
Schreibe einen Brief. Koch Suppe.

Siehst du das?
Du gehst vorwärts, Schritt für Schritt.
Mach einen Schritt und dann Pause. Ruh dich aus.
Schätze dich selbst. Mach den nächsten Schritt.
Dann noch einen.

Du wirst es kaum merken, aber deine Schritte werden länger werden.
Bis es soweit ist, wo du wieder an die Zukunft denken kannst,
ohne zu weinen.

Elena Mikhalkova

April 2021

Nur eine Zigarette

„Nur eine Zigarette ...das wär´s!“ sagt die Patientin zu mir. „Okay, dann schauen wir mal wie das klappt“, sage ich und schiebe ihren Rollstuhl auf die Zimmertür zu. Sie blickt mich überrascht an: „Sie wollen wirklich ….? Dürfen Sie das?“ Ihr Blick hat etwas Verschwörerisches. Ich zucke mit den Achseln. Die Frage habe ich mir noch nie gestellt, ob Jesus auch den Kranken geholfen hätte, wenn sie eine Zigarette rauchen wollten? Wir fahren mit dem Rollstuhl ins Freie und während sie genüsslich an ihrer Zigarette zieht, erzählt sie mir von ihrem Leben. Wie sehr sich alles durch die Krankheit verändert hat. Alles ist anders, alles ist aus den Fugen geraten. Die Zigarette ist ein Stück vom alten Leben – wenn sie die raucht, hat sie die Zuversicht, dass auch der Rest wieder so wird, wie er einmal war. 

„Nur eine Zigarette – dann fahre ich heim….“ sagt die Reinigungskraft, deren Schicht beendet ist. Ich bleibe einen Moment bei ihr stehen. „Also heute, ….“  beginnt sie stockend „ist mir was ganz Blödes passiert.“ „Was Blödes?“ frage ich nach. „Ja, kennen Sie die Patientin auf 420? Die hat heute zu mir gesagt, ich soll mich nicht so verrückt machen mit dem Putzen, weil sie eh bald stirbt und dann muss ich ja danach das Zimmer gründlich sauber machen….“ „Und das war blöd für Sie?“  Sie blickt mich mit traurigen Augen an. „Naja, was heißt blöd….. ich putze doch nur, ich versuche so schnell wie möglich und so gut wie möglich das Zimmer sauber zu machen und dann sagt die sowas. Dass sie bald stirbt, meine ich.“  „Vermutlich hat die Patientin die Wahrheit gesagt“, erwidere ich.  „Ich wusste nicht was ich sagen soll.“ Tränen sind in ihren Augen. Sie zieht heftig an der Zigarette.  „Ich habe nur ihre Hand genommen und gedrückt, aber gesagt habe ich nichts.“ „Ich hätte es nicht besser machen können. Manchmal sind die kleinen Gesten wichtiger als jedes Wort.“ Sie schaut mich nachdenklich an. „Ich glaube, jetzt habe ich keine Angst mehr morgen wieder in das Zimmer zu gehen. Hoffentlich ist sie noch da…..“ Sie nimmt den letzten Zug aus ihrer Zigarette und drückt sie aus. 

Die Aufzugtür geht auf, drinnen steht ein kleiner Junge. Wie eine Trophäe hält er den Infusionsständer fest. Er schaut mich neugierig an. Sein Blick fällt auf mein Schild. „Na, bist du krank?“ frage ich ihn. „Ja“ sagt er „und du, arbeitest du hier?“ „Kann man so sagen“ erwidere ich schmunzelnd. Wieder starrt er auf mein Schild, versucht vermutlich zu lesen, was ich so mache. „Verdienst du viel Geld hier?“ Ich muss lachen und überlege was wohl die richtige Antwort ist. „Naja, sagen wir mal so, ich kann mir von dem Geld,  ganz schön viele Tüten Gummibärchen kaufen.“ Er grinst und schaut mich dann herausfordernd an. „Meine Mama kauft sich lieber Zigaretten, die mag Gummibärchen nicht so.“ „Nun für einige sind Gummibärchen wichtig und für andere ist die Zigarette wichtig“, versuche ich diplomatisch zu reagieren. Die Tür öffnet sich. „Tschüss!“ verabschiedet er sich und lässt mich mit dieser Erkenntnis alleine im Aufzug zurück.              
                                                                                        
Gabriela Amon

März 2021

Es kommt eine Zeit

Es kommt eine Zeit
da werden wir viel zu lachen haben
und Gott wenig zum weinen;
die Engel spielen Klarinette
und die Frösche quaken die halbe Nacht.

Und weil wir nicht wissen
wann sie beginnt
helfen wir jetzt schon
allen Engeln und Fröschen
beim Lobe Gottes.

Dorothee Sölle

Februar 2021

Kraftquellen

Was mich zum Leben ermächtigt, ist nicht jeden Tag gleich.
Was mich heute stärkt, ist anders als vor zwanzig Jahren.
Was mir Kraft gibt, muss nicht für andere gelten.

Für mich:
Gehen, festen Boden unter den Füßen spüren
Singen, meinen Körper als Klangraum erleben
Tanzen, Ausdruck für meine Gefühle finden
Sichere Orte aufsuchen, geborgen sein
Mich kompetent erleben
Entscheidungen treffen
Freund*innen besuchen
Meine Not zeigen
Meine Grenzen anerkennen
Meine Schwächen ernst nehmen
Mich anlehnen und Halt finden im Göttlichen, das mich immer schon hält und trägt

Eva-Maria Kleisz

Januar 2021

Ein neues Jahr liegt vor uns

Ich bin 
vergnügt,
erlöst,
befreit;
Gott nahm in seine Hände meine Zeit.
Mein Fühlen, 
Denken,
Hören, 
Sagen,
mein Triumphieren
und Verzagen,
das Elend
und die Zärtlichkeit.

Was macht, dass ich so fröhlich bin
in meinem kleinen Reich?
Ich sing und tanze her und hin,
vom Kindbett bis zur Leich.

Was macht, dass ich so furchtlos bin
an vielen dunklen Tagen?
Es kommt ein Geist in meinen Sinn,
will mich durchs Leben tragen.

Was macht, dass ich so unbeschwert
und mich kein Trübsinn hält?
Weil mich mein Gott das Lachen lehrt,
wohl über alle Welt!

H. D. Hüsch

Dezember 2020

Zärtlich gebotener Abstand

Auch mit gebührendem Abstand
kann und will ich das in Windeln gewickelte Kind von Bethlehem
zärtlich berühren und innig umarmen.

Auch mit geziemendem Abstand
kann und will ich dem von Engeln verkündeten neu geborenen Kind
aufmerksam und andächtig nahe sein.

Auch mit erforderlichem Abstand
kann und will ich das geburtswunde Kind in der Krippe mit herzlicher Liebe
umfangen und bewundern.

Auch mit angemessenem Abstand
kann und will ich das uns Menschen anvertraute und ausgelieferte Kind
verehren und anbeten.

Auch mit weltweit gegebenem Abstand
kann und will ich in den Gesichtern aller entstellten und gezeichneten Kinder dieser Erde
die Züge des göttlichen Kindes erkennen.

Paul Weismantel

Dezember 2020

Treue Begleiter

Immer und auf allen Wegen
begleitet uns die Treue der Engel,
besonders im Advent.

Gerade in diesen Tagen mögen sie
dich noch zärtlicher berühren,
noch stärker beflügeln, noch inniger
behüten, die Engel des Advent.

Besonders in diesen Tagen
sollen sie dich freudig stimmen,
schützend umgeben, fürsorglich
bewahren, die Engel des Advent.

Immer und auf vielen Wegen
können auch wir füreinander
zum treuen Engel werden.

November 2020

Der Himmel ist dort,

wo Menschen einander gut sind,
wo Menschen miteinander reden,
wo Menschen füreinander sorgen,

wo Hungernde Nahrung erhalten,
wo Kranke besucht werden,
wo Traurige getröstet werden,

wo Versöhnung den Streit beende,
wo Gemeinsinn den Eigensinn ablöst,
wo Menschen miteinander teilen,

wo Gerechtigkeit regiert,
wo jeder Mensch gleich viel gilt,
wo ein Leben in Würde möglich ist.

Gisela Baltes, www.impulstexte.de, in: Pfarrbriefservice.de

Heilig Kreuz Kirche in München- Giesing

Oktober 2020

Die Lunge ist das neue Herz

In Zeiten von Covid 19 ist besonders die Lunge als Organ in den Mittelpunkt gerückt, weil der Virus u.a. schwerste Schädigungen der Lunge verursachen kann. Und es zeigt sich, wie alles abhängt vom Atmen und vom Atem. „Die Lunge ist das neue Herz“, zitierte kürzlich die Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“* auf der Titelseite. Während viele Menschen auf der Welt in diesen Tagen weltweit um Luft ringen und rangen raten uns Virologen: Achtung vor Aerosolen. Geht vor dem Atem der Mitmenschen auf Distanz.

Seit Oktober letzten Jahres gibt es ein Kunstwerk, das in diesen Tagen besonders viel Aufmerksamkeit bekommen hat. Es sind die Glasfenster der Heilig Kreuz Kirche in München- Giesing. Erst bei genauerem Hinsehen wird erkennbar: Es handelt sich um hunderte Röntgenaufnahmen des menschlichen Thorax, des Brustkorbs, keine gleicht der anderen. Was hat es mit diesem außergewöhnlichen Motiv auf sich?
Als der bekannte Foto- und Videokünstler Christoph Brech - in Schweinfurt geboren - den Auftrag zur Gestaltung der großen Glasfenster der neugotischen Kirche erhielt, stand er in der Kirche und ließ den Gekreuzigten auf sich wirken. Er war beeindruckt vom markant ausgebildeten Brustkorb. Und da erinnerte sich der Arztsohn: Im Keller daheim liegen tausende Röntgenbilder, Aufnahmen des menschlichen Brustkorbs. Aufnahmen von gesunden und kranken Lungenflügeln. Kräftig ausgebildete Lungenflügel von Sängern und auch von Tumoren befallene. Und da kam ihm die geniale Idee für die Gestaltung der Fenster. Faszinierend und verblüffend zugleich: Die Lungenflügel als Motiv. Die Lunge als Bild für das Innere des Menschen.

Heilig Kreuz Kirche in München- Giesing

Auf Basis von mehr als 1.000 Röntgen-Thoraxaufnahmen hat Brech seine Fenster geschaffen, hunderte Paare von Lungenflügeln, die man erst bei näherer Betrachtung erkennen kann. Vom dunklen Original konvertiert er die Aufnahmen in helle Töne, und lässt sie auf hellblau eingefärbtes Glas brennen. Die Organe wirken jetzt schwebend leicht wie Flügel, die mit denen der Engel im Hochaltar korrespondieren. Brecht sagt: „Der Mensch beginnt sein Leben mit dem ersten Atemzug und beendet es mit dem letzten. Gott haucht ihm den Atem ein – und, alles was Odem hat, lobe den Herrn“, zitiert er den letzten, den 150. Psalm.

Eine erhabene, fast meditative Stimmung strahlen diese Fenster aus. Sie lassen tief durchatmen und aufatmen. Und genau das wollen Kirchen eigentlich sein:  Räume des Aufatmens, Räume des Durchatmens.  Aber auch Räume, die uns in die Tiefe unserer selbst hinabsteigen lassen. Räume, in denen der Lärm der Welt verebbt und wir in eine andere Welt eintauchen kann. Räume, die etwas von der Erfahrung vermitteln wollen: Gott ist mein Atem, wenn ich zu ihm bete. Und wir brauchen immer wieder Erfahrungen des Aufatmens. Dies bringt Anton Rotzetter in seinem Gebet zum Ausdruck:

Der mich atmen lässt, bist Du, lebendiger Gott,
der mich leben lässt, bist Du, lebendiger Gott,
der mich schweigen lässt, bist Du, lebendiger Gott,
der mich atmen lässt, bist Du, lebendiger Gott.

Der mich glauben lässt, bist Du, lebendiger Gott,
der mich hoffen lässt, bist Du, lebendiger Gott,
der mich lieben lässt, bist Du, lebendiger Gott,
der mich atmen lässt, bist Du, lebendiger Gott.

(Anton Rotzetter, "Gott, der mich leben lässt", Herder-Verlag Freiburg, 2000, S. 98)
(Anregung durch: * Christ in der Gegenwart 22/2020 v. 31.5.2020 und einer Predigt von Stefan Mai zu den Fenstern)

September 2020

Noch ist ein Lächeln in der Welt

Vom Virus Corona berichten
Ängste schürende Geschichten,
doch Helfer trotz Misere
retten Menschen, retten Ehre.
Es gibt ein Lächeln in der Welt.

Unheils-Propheten Unsinn trompeten,
Verschwörungsparolen ganz unverhohlen.
Doch noch ist Lächeln in der Welt.

Ignoranten in allen Landen
Gefahr missachten, nach Freiheit trachten.
Noch gibt es Lächeln in der Welt.

Wir sitzen alle im selben Boot,
selbstloser Einsatz, Gemeinsinn tun not.
Kommt, lasst euch nicht hängen und mutlos schleifen;
Ein jeder kann helfen, zum Ruder greifen,
damit später noch wird erzählt:
Es war ein Lächeln in der Welt.

Gerd Bantle

Juli 2020

Wie es ist, mit Plan B zu leben

Hoch lebe Plan B! Er führte viel zu lange ein Schattendasein. 
Plan B, das sind Patchworkfamilien. 
Camping in den Alpen statt Trekking in Mexiko. 
Balkon statt Garten, Ole statt Martin, 
Gummistiefel statt Flip-Flops. 
Schuldnerberater statt Wirtschaftsanwalt. 
Kaiserschmarrn statt Pfannkuchen.
Plan B ist die Antwort des Lebens, wenn das Leben nicht so spielt, wie ich es geplant hatte. Schokoladeneis ist aus, nehmen Sie Maracuja. Muss nicht schlechter sein, ist nur anders.

Mit waren schon immer diese Coaches suspekt, die fragten, was ich in zehn Jahren tun will. Woher soll ich wissen, was das Leben so vorhat?
Ich schmiede gerne Pläne. Das liegt daran, dass ich viele Ideen habe. Es gibt einfach eine Menge interessanter Sachen auf der Welt. Aber dann beginnt es plötzlich zu regnen oder die Kündigung liegt auf dem Tisch und ich kann mich darüber grämen oder etwas anderen machen. Meistens mache ich was anderes. Manche sagen: „Du musst mal was durchhalten. Wer A sagt, muss auch B sagen“. Erstens frage ich: „Warum eigentlich? Und zweitens glaube ich, dass man lernen kann zu erkennen, wann eine Abzweigung die bessere Wahl ist.

Das Leben ist auf Lücke gebaut. Damit muss man klar kommen, und es ist sicher nicht die einfachste Übung. Wenn etwas nicht so klappt, wie man es sich gewünscht hat, kommt die Enttäuschung um die Ecke, und sie ist ziemlich hartnäckig. Am besten man streichelt ihr ein paar Mal über den Kopf und sagt: Komm, ich zeig dir was Schönes. Und dann muss man eben gucken, wo was Schönes ist.

Die halbe Bibel ist ein Plan B. Ich weiß, der Satz ist gewagt. Aber nehmen wir das Paradies. Das hatte Gott sich wahrscheinlich auch ganz anders vorgestellt. Alles war just fertig und roch noch nach Farbe, dann kamen die Menschen, plünderten den Apfelbaum, und vorbei war’s mit dem schönen Plan. Doch was dann folgte, war gar nicht so schlecht. Auch vor der Tür lässt sich’s ganz gut leben. Oder die Sintflut. Die ganze Menschheit wollte Gott vernichten. Im größten Zorn versteigt man sich schon mal ein bisschen und verliert jedes Maß. Wir können nachlesen, wie selbst Gott seine Meinung änderte und versprach: Das mach ich nicht wieder. Hier habt ihr einen Regenbogen, der ist das Siegel. 
Und schließlich Jesus: Dessen Laufbahn auf Erden war schnell beendet. Mag sein, dass er’s geahnt hat, weil man als Aufwiegler immer gefährlich lebt. Aber geplant hatte er sein Ende am Kreuz doch bestimmt nicht. Wer will schon so sterben?
Manche sagen: doch. Gott habe das alles genau so gewollt und vorherbestimmt. Glaube ich nicht. Ich glaube, all diese Geschichten zeigen, dass Gott ein Meister des Plan B ist. Er kann aus dem größten Mist Gutes machen. Hoffnung siegt über Resignation. Mit Plan B kommt man durchs Leben. Weil es immer weiter geht. 
Weil es Verwandlung gibt. 

Manche  nennen das Auferstehung.

Aus: Susanne Niemeyer, Mut ist Kaffeetrinken mit der Angst, S. 56-57, Herder, 2018